Pressefoto (c) Robert Eikelpoth

Pressefoto (c) Robert Eikelpoth

 

Während die Fangemeinde gespannt auf den 14. August wartet, den Tag, der uns das neue Rock-Studio-Album „Zirkus Zeitgeist“ beschert, hatte die Totentänzer-Redaktion die Möglichkeit, vorab ein Ohr auf das Album zu werfen. An dieser Stelle möchten wir uns ganz herzlich bei den Spielleuten bedanken, die das Testhören möglich gemacht haben.

 

 

Saltatio Mortis haben alles nur Denkbare getan, um die Neugier der Fans auf das neue Album zu schüren – kaum ein Tag, in dem nicht im Vorfeld Snippets, Lyric-Videos oder auch der grandiose Clip zur Single „Wo sind die Clowns“ auf einschlägigen Video-Plattformen lanciert worden sind. Die Rezensentin hat sich in heldenhafter Selbstbeherrschung von all diesen Appetizern fern gehalten, um sich nicht den Ersteindruck des Gesamtwerks verspoilern zu lassen. Denn was war da alles an Unkenrufen in den sozialen Netzwerken zu lesen! Tote-Hosen-Coverband mit Dudelsack? Abkehr von der unantastbar heiligen Mittelaltermusik? Ausverkauf, Kommerzialisierung, Profitstreben?

 

Vorab die Entwarnung für alle, die sich bang gefragt haben, was denn wohl mit „Zirkus Zeitgeist“ aus Saltatio Mortis geworden ist. Die Band ist die selbe wie immer – nur noch besser!

 

Zugleich aber ist klar: „Zirkus Zeitgeist“ ist alles andere als eine leichte Gute-Laune-Feier-Platte geworden. Was den musikalischen Part angeht, stimmt alles: Rockige, treibende, energiegeladene Arrangements, in die ohne Frage erfrischende Punk-Einschläge eingeflossen sind, die aber auch mit ganz überraschenden Versatzstücken anderer Musikstile daher kommt. Auch der Balladen-Pegel stimmt und führt den Drive des Gesamtalbums stets am richtigen Punkt auf Momente zum Durchatmen zurück. Melodiös und kompositorisch haben wir es bei „Zirkus Zeitgeist“ mit Saltatio Mortis in Bestform zu tun – Musik, die keine Wünsche übrig lässt und bei der ekstatische Dynamik ebenso ihren Platz findet wie nachdenkliche Träumerei. Alea entlockt seiner Stimme eine beeindruckende Palette von Emotionen und aus jeder Note klingen dem Hörer die Energie und Spielfreude der Band entgegen. Fast jeder Song ist ein Ohrwurm, der sich schon nach dem ersten Hören hartnäckig festsetzt, es gibt keine qualitativen Ausreißer nach unten.

 

Warum ist aber ist es insgesamt doch ein Werk, das trotz allem musikalischem Feuer nicht zum gänzlich unbeschwerten Abrocken einlädt? Deshalb: Beinahe jedes Stück auf „Zirkus Zeitgeist“ fasst auf der Textebene ein heißes Eisen an. Von Schwangerschaftsabbruch bis Alkoholismus, von der Angst vor Rechtsaußen über die Schrecken des Krieges bis zum drohenden Finanzkollaps der Weltwirtschaft reicht die Themenpalette und macht „Zirkus Zeitgeist“ so zu einer kritischen und auch mahnenden Platte. Saltatio Mortis transportieren mit gewohnt exzellenter Musik hochpolitische Themen und beziehen deutlich Stellung zu Reizthemen – eine Reflexion auf den aktuellen Zeitgeist eben, mal ironisch, mal sardonisch oder emotional, immer jedoch mit hochintelligenter Textarbeit verbunden. Ja, es gibt sie, die Lieder für kollektive Chorgesänge, zum Wunderkerzen schwenken oder ekstatisch abtanzen. Hinter jedem Song verbirgt sich jedoch eine Botschaft, die „Zirkus Zeitgeist“ dicht an politisches Liedermachertum heranführt und die Themen mit dem Medium Rockmusik an ein Rock-Publikum heran führt.

 

Nun kann man sagen, dass dies alles nichts Neues ist  –Saltatio Mortis haben sich nie gescheut, Missstände kritisch zu hinterfragen und Aktuelles zu thematisieren. Das stimmt wohl – trotzdem ist es bei Zirkus Zeitgeist etwas anders umgesetzt worden. Das Album nimmt sich deutlich zurück in der Verwendung von Metaphern und Gleichnissen. Die Texte sind direkter, unmissverständlich und lassen wenig Raum für mehrdeutige Spekulationen. Diese ungewohnte, oft bitter-sarkastisch klingende Klarheit ist in dieser Konsequenz neu bei Saltatio Mortis, aber auch notwendig – eine Beschäftigung mit dem „Zeitgeist“ kann, dort wo Metaphern nicht mehr ausreichen, nur mit klaren Worten geschehen.

 

Von alldem ahnt der Hörer noch nichts, wenn als Intro des Openers „Wo sind die Clowns“ zunächst nostalgische Kirmesmusik ertönt, um nahtlos in ein druckvolles, munteres Dudelpunkrockstück in bester Saltatio Mortis -Manier überzugehen. „Wo sind die Clowns, wo sind die Narren, wo ist der Spaß auf dieser Welt?“, heißt es da angesichts der medialen Dauerbefeuerung mit Bildern und Nachrichten über Katastrophen überall auf der Welt. Den Video-Clip mit entfesselten Spielleuten im verstörenden Horrorclown-Outfit kennen wir alle: Die Musiker wirken mit ihrer Optik in surrealer, detailverliebter Kulisse und ihren bizarren Handlungen allesamt auf eine verzweifelte Art irre. Mehr Fröhlichkeit und Positives, postulieren Saltatio Mortis – und führen im Folgenden augenblicklich diese Forderung einer neuen Spaßgesellschaft ad absurdum, denn in den folgenden dreizehn Tracks (des Standard-Albums) gibt es nicht viel zu lachen Ein ironischer Abgesang auf die schnelllebige und stets oberflächliche „Spaßkultur“, mit der wir es im Zeitgeist zu tun haben? Wahnsinnige Fun-Clowns, die sich  in ihrer gezwungenen Fröhlichkeit von den Schrecken der Welt bewusst abschotten? Was erhellt das Licht hinter der Tür, die Alea, von seiner Verkabelung befreit, am Schluss der Clip-Handlung öffnet? Ein spannender Ansatz für Interpretationen.

 

 „Willkommen in der Weihnachtszeit“ – ein Weihnachtslied auf einem non-saisonalen Album? Wenn das mal nicht ein strategischer Angriff auf die Airplay-Rotationen der kommenden Monate ist! Und zwar einer, der den Nerv trifft, ein Thema, das jedes Jahr aufs Neue die Gemüter erregt: Warum nur tauchen in den Supermärkten schon im August die ersten Zimtsterne auf? Es geht allerdings nicht nur um die Invasion der Nikoläuse: Sarkastisch kritisieren Saltatio Mortis die Kommerzialisierung der Festtage hinter dem durch den Handel forcierten Geschenke-Wahn. Der führt letztlich dazu, dass auch eine Verwässerung der durch traditionelle Festdaten markierten Jahreszeit stattfindet – der Kommerz führt zu einer  Beliebigkeit in der Zeit. Musikalisch kommt das Lied sehr munter und energiegeladen daher und geht rasch ins Ohr – ein „Weihnachtslied“, mit dem die auch die Anti-Weihnachtszauber-Fangemeinde sich anfreunden kann.

 

Der nervtötende alljährliche Weihnachtswahnsinn allerdings ist, zusammen mit der insgesamt fröhlichen Musik, einer der harmloseren Momente von „Zirkus Zeitgeist“. Das nächste Stück geht ins Mark: „Nachts weinen die Soldaten“, Gedanken angesichts eines anonymen Soldatengrabs über Sinnlosigkeit von Kriegen und die Verschwendung von Menschenleben, die im Tod noch einer Ent-Individualisierung anheim fallen und als Einzelschicksale nicht mehr fassbar sind. Wenn hier aber auch der Text mit der konkreten Jahreszahl 1916 den Ersten Weltkrieg als historisches Ereignis fixiert, transportiert der Song eine universelle, zeitlos-pazifistische Botschaft und schlägt eine Brücke zum Vorgängeralbum: Mit „Krieg kennt keine Sieger“ gab es dort bereits einen ähnlichen Song. Musikalisch haben wir es mit einem melancholisch-getragenen, ruhigen Stück zu tun, in dem Alea seinem stimmlichen Ausdrucksrepertoire freien Lauf lassen kann und das mit Chorelementen schöne Akzente setzt.

 

Danach ist wieder Zeit für die traditionelle  Märchenstunde bei Saltatio Mortis und die startet auch mit einem schönen Gitarren-Dudelsack-Intro, das ehe man sich versieht zu einem von harten Gitarrenriffs getriebenen, aggressiven Rock-Stück wird. Hans Christian Andersens modebewusster Monarch stand Pate für „Des Bänkers neue Kleider“, allerdings nur, was die Pointe betrifft. Thema ist der Finanzmarkt, wo gut gekleidete Banker mit virtuellem Geld jonglieren – ein Geschäft, das für Normalsterbliche kaum noch zu durchblicken ist, sich in seiner giergetriebenen Absurdität in weltweit in fatalen Finanzkrisen, Staatspleiten und Börsenunruhen äußert. Aber das Geld und die Finanzprodukte, mit denen der Banker sich umgibt, sind letztlich immateriell, Betrug und Illusion:  Hinter der Kulisse der glanzvollen Geldwirtschaft ist er nackt und ungeschützt und bleibt selbst stets bedroht vom Zusammenbruch des Systems. Ein globales Thema, das nicht erst seit der Griechenland-Krise an Beachtung gewonnen hat.

 

Vom Globalen zum Einzelschicksal: Eine Männer-Band, die ein weibliches Reizthema besingt, nämlich den ethischen Konflikt um die Abtreibung? Können – man verzeihe an dieser Stelle die Gender-Bedenken – Männer überhaupt adäquat mit so einem Sujet umgehen? — Können sie: Weniger ist hier nicht nur mehr, sondern schafft den Ansatz für die eigenen Interpretationen. Die Geschichte von „Maria“ bleibt sehr vage, man erfährt nicht, wie es zur Schwangerschaft kam oder was am Ende aus dem Kind wird – nur von der Verzweiflung und ethischen Verunsicherung der Protagonistin und ihrem Suizid ist die Rede. Dies melodiös ausgerechnet auf einer Variation des christlichen Originals „Maria durch ein Dornwald ging“ (Erstnotation 1850). Das bekannte Wallfahrts- und Adventslied handelt von der unbefleckten schwangeren Muttergottes und einem Blumenwunder. Das Lied von Saltatio Mortis’ geschwängerten Maria wird zu einer brisanten Umdeutung des Stoffs, das explosiven Diskussionsstoff für die Rezeption bereit hält. Meines Erachtens eines der stärksten Stücke auf dem Album, sehr gefühlvoll vorgetragen, schön arrangiert und unfassbar traurig, einer Trauer allerdings, die den Hörer auch mit einer gewissen Ratlosigkeit zurück lässt.

 

Damals schon hatte ich mich über die legendäre Schlagzeile „Wir sind Papst!“ anlässlich der Berufung von Kardinal Ratzinger in das höchste Kirchenamt amüsiert. (Die zugehörige Bild-Berichterstattung erinnerte in der Aufmachung tatsächlich an ein Sportevent). Wenn Saltatio Mortis nun diesen Slogan in Verbindung mit dem ironisierten Jubel über etwas so Profanes wie den aktuellen Fußball-Weltmeister-Titel zu einer schmissigen Punkmelodie schmettern, macht das erst mal gute Laune – an diesem Punkt des Albums, nach toten Soldaten und Selbstmörderinnen auch als Relief-Szene dringend nötig. Was aber ist die Aussage des Liedes? Im Grunde ist es eine Absolution auf die harmlose schwarz-rot-goldene Nationalidentifikation bei Sportanlässen, die meist postwendend von moralisierender Seite als tumber Rückfall in finstere nationalistische Vergangenheit gegeißelt wird. Warum sollte man sich nicht über eine konkrete erfreuliche Errungenschaft seiner Nation freuen – solange man darüber nicht vergisst, wo Nationaltümelei und Heldenverehrung in der Vergangenheit hingeführt haben? Das, so Saltatio Mortis, darf nie wieder passieren – ein Aufruf zum Weltbürgertum, ohne Überhöhung einer Nation. Und damit in einschlägigen Kreisen erst gar keine falschen Interpretationsansätze aufkommen: „Raus mit allen Nazis“, das ist explizite Ansage. – Es lässt sich darüber streiten, ob es eine taktisch kluge Idee war, ausgerechnet „Wir sind Papst“ als erste Hörprobe der Öffentlichkeit zu präsentieren, denn aus dem Zusammenhang gerissen kann der Song eine falsche, unangemessene Erwartungshaltung wecken. Auf dem Album jedoch ist der „Papst“ goldrichtig und dramaturgisch klug eingesetzt. Wenn auch das schottische Traditional als Ausklang erst stutzen, dann grübeln lässt. Soviel zur Unabhängigkeit Schottlands, die kürzlich zur Debatte stand?

 

Wo wir gerade bei Nationalismus und folglich „Nazis“ sind: Ohne einschlägiges Hintergrundwissen wird ein Gutteil der Zuhörer die politische Brisanz von „Augen zu“ nicht erfassen. Es handelt sich um eine Textparodie auf das verbotene Horst-Wessel-Lied, inoffizielle Nationalhymne zur Zeit des Nationalsozialismus. Entstanden ist die Nazi-Hymne selbst schon zuvor: Auf eine vorhandene harmlose volkstümliche Melodie verfasste der Hitler-Gefolgsmann Wessel den die SA glorifizierenden Text „Die Fahne hoch!/ Die Reihen fest geschlossen!/SA marschiert/ Mit ruhig mutig festem Schritt“. Bei SaMo wird daraus „Die Augen zu/ die Lider fest geschlossen/ weiter so/ mit dummdreist festem Schritt“. Vor dem Wegsehen warnen die Spielleute und bringen so unterschiedliche Wegguck-Themen wie die Gefahren der Atomenergie (Fukushimas verstrahltes Meer) und den neuen mehr oder weniger verdeckten Rechtextremismus zur Sprache. Parodien auf das Horst-Wessel-Lied sind nichts Neues, die gab es schon von Wessels Zeitgenossen. Dass Saltatio Mortis sich hier aber so unerschrocken nach der deutschen Nationalhymne („Wachstum über alles“ auf dem „Schwarzen IXI“) nun an Liedgut der Rechten „vergreifen“, wird sicherlich in der nächsten Zeit noch viel diskutiert werden („Darf Kunst das?“) und bezeugt wieder einmal die eindeutige Anti-Nazi-Haltung der Band.

 

Apropos Szene: Was ist eigentlich mit der SaMo-Fangemeinde passiert? Zugegeben, es gab schon zu Anfangszeiten der Band Stimmen, die jede Innovation im musikalischen Schaffen und die wachsende Popularität kritisch beäugten und immer wieder ihren Unmut über jede vom Status Quo abweichende Entwicklung nicht gerade sachlich kommentierten. „Kommerz! Kommerz!“, schallt es da aus den Social Media-Plattformen, oder „Arroganz! Verrat an den Fans! Immer schlechter werdende Musik! Pfui!“. – Auf diese bedauerlichen Entwicklungen in einer Fankultur, die künstlerische Entwicklungen und Experimente genauso verdammt wie den Umstand, dass es dem Künstler endlich gelingt, von der Kunst auch leben zu können, antworten Saltatio Mortis „Geradeaus“ weg und sprechen damit ein Thema an, dass die Band in ihrem Selbstverständnis ganz unmittelbar betrifft. Sie werden ihren eigenen Weg allem Gemecker zum Trotz weiter zu verfolgen. Das geschieht mittels eines gerade für Urgestein-Fans sehr cool gemachten Textes, den man auch mit „Such-den-Song“ betiteln kann: Wer alle Anspielungen auf Titel aus dem Schaffen der letzten fünfzehn Jahre findet, hat gewonnen. Punkig, bissig, unverstellt und doch immer noch mit einer guten Portion Sarkasmus – so kennt man Saltatio Mortis, und dafür liebt die treue Fangemeinde die Band.

 

Wunderkerzen raus – nun ist Balladen-Zeit! Alea singt über die „Erinnerung“ an eine vergangene Zeit, die Beziehung zu einem zwischenzeitlich entschwundenen geliebten Menschen. Was ist passiert? Ein Todesfall, eine gescheiterte Beziehung? Der Text lässt es offen, denn es ist nicht wichtig: Was immer sein wird, ist die Erinnerung an die schöne Zeit, die jedoch nie wiederkommt. Die Zeit geht weiter, alles entwickelt sich weiter und kehrt nie wieder an den alten Punkt zurück. Ein mitten ins Herz treffendes Lied, musikalisch äußerst catchy gehalten und sicherlich eine neue Hymne für alle, die sich in Nostalgie an alte Zeiten und schöne Momente mit einer geliebten Person erinnern. Ein wenig vielleicht auch eine versöhnlichere Reprise auf das vorangegangene „Geradeaus“, für alle, die in stiller Nostalgie an alte Konzerte und Markterlebnisse denken.

 

Was darf im Repertoire einer Spielmannstruppe nicht fehlen? Klar: Wenigstens ein Sauflied pro Veröffentlichung. Mit dem „Trinklied“ scheinen Saltatio Mortis dabei zunächst einmal dem zu entsprechen, was wir von einer Band erwarten, die auf und neben der Bühne stets munter am Bechern ist. Da wird der Freund gepriesen, der immer für einen da ist, wenn der Rest der Welt gegen einen ist und es einem dreckig geht, der Retter in der seelischen Not und ständige Begleiter. Der irgendwann einen hohen Preis für seine „Freundschaft“ fordert, denn Alkohol ist ein gefährlicher Kumpel, bis in den Tod hinein. Das hat gesessen. Diese Wende des Textes, und das von einer trinkfesten Band, wirkt zunächst einmal paradox: Meinen die das ernst? Gut so: Denn dieses Stolpern regt zum Nachdenken, zur ernsthaften Beschäftigung mit den Folgen des Alkoholkonsums an: Trinken mit Verstand. Kenn dein Limit.

 

Nach so viel unbequemen Themen kommt der lüsterne „Rattenfänger“ geradezu beruhigend vertraut daher: Da spricht wieder einmal das uns schon bekannte lyrische Ich, das stets auf der Suche nach weiblicher Nähe ist und am Ende trotz erotischer Eroberungen doch keine Liebes-Erfüllung findet. Das Thema ist fast so alt wie die Band selber. Im Gegensatz zu früheren Songs wie dem „Verführer“ oder gar dem „Hochzeitstanz“ kommt dieser Rattenfänger aber in einem neuen Gewand: Hier haben wir es mit einem zu treibender Rhythmik rockenden frivolen Schürzen- bzw. Mieder-Jäger zu tun, der zwar ganz im Sinne der mittelalterlichen Minnesänger um die Damen wirbt („Lausche doch erhör mich nie“), das Ganze letztlich aber doch nur für ein schnelles Abenteuer mit verführbaren Damen auf sich nimmt. Mädels, nehmt euch vor solchen Typen in Acht! Und sagt nicht, Saltatio Mortis hätten euch nicht gewarnt!

 

Es folgt ein Lied, bei dem man ein klein wenig recherchieren muss. Der Text gibt einen eindeutigen Hinweis auf die wahre Geschichte hinter dem  Stück: Erzählt wird die Geschichte der Zwillinge Eva Mozes Kor und ihrer Schwester Miriam. Die Kinder gerieten im Vernichtungslager Auschwitz in die Fänge des als „Todesengel“ bezeichneten Arztes Josef Mengele, der wegen seiner grausamen medizinischen Experimente an eineiigen Zwillingen bekannt wurde. Die beiden kleinen Mädchen überlebten Auschwitz, Eva fungierte später bei einem wichtigen Prozess gegen Naziverbrecher in Israel als Belastungszeugin – und empörte die fassungslose Öffentlichkeit, indem sie in einem spontanen Akt dem Angeklagten ihre Vergebung aussprach. „Forgiving Dr. Mengele“ heißt ein Film, der sich mit der Geschichte der Eva Mozes Kor und ihrer Organisation C.A.N.D.L.E.S. beschäftigt und der sicherlich zum Text des Songs mit inspiriert hat. Der kontrastiert aggressive Gitarren-Dudel-Riffs mit Drehleier-fokussiertem sanften Refrain – ein echter „Hinhörer“ auf dem Album.

 

 „Sag mir, wie man Glück vermisst“, singt Alea. Glück vermessen? Vermissen? Eine raffinierte Doppeldeutigkeit. „Die Vermessung des Glücks“ ist wieder klassischer schneller Dudelrockpunk, ein Plädoyer dafür, Träume und Taten in der Gegenwart auszuleben, statt sie auf unbestimmte Zeit zu verschieben, denn irgendwann ist es zu spät. (Eine Verneigung vor Wolfsheim, die vor Zeiten mit „Kein zurück“) ein ganz ähnliches Thema formuliert hatten?). Abstrakte Güter wie Glück, Zufriedenheit, Liebe lassen sich eben nicht mit Maßeinheiten katalogisieren und entsprechend verplanen, Leben lässt sich nicht auf “später” zurückstellen.

 

„Zirkus Zeitgeist“ (Standardversion) entlässt uns als Rausschmeißer mit einer wiederum wunderschön balladigen „Abschiedsmelodie“. Auch hier geht es um versäumte Gelegenheiten, um die Unmöglichkeit, Vergangenes (hier: Offensichtlich eine romantische Beziehung) zurückzuholen. Ein Song, der sich mit stillem, persönlichem Drama beschäftigt, wunderbar feinfühlig vorgetragen und ruhig arrangiert. Wunderschön!

 

Das Fazit aus der Totentänzer-Redaktion (und, wie gesagt, unvorbelastet von den Snippets): „Zirkus Zeitgeist“ ist ein wunderbar stimmiges, mitreißendes Album in allerbester Saltatio-Mortis-Manier, das den auf dem „Einmaleins“ begonnenen Weg geradlinig fortsetzt, allerdings textlich noch einmal eine Nummer düsterer, aber auch konsequenter ist. Vom persönlichen Liebesdrama über Schrecken der Vergangenheit bis zu aktuellem Geschehen deckt das Album eine große Palette von brisanten Themen und Tragödien ab, die Spielleute vergessen aber auch optimistische ermunternde Worte nicht und fordern auch mit diesem Album ihre Hörer auf, im Hier und Jetzt zu leben: Kritisch sein, Farbe bekennen, aus der Vergangenheit lernen und den Augenblick nutzen. Das sind Saltatio Mortis, unverbogen und so authentisch wie immer.

 

Standing ovations für die Artisten im Zirkus Zeitgeist!